Vom Egoismus zum Selbstvertrauen
Ich kenne keine Worte, die missverständlicher gebraucht werden als "Ego", "Ich" und "Selbst". Alle drei Begriffe können sowohl eine positive wie auch eine negative Bedeutung haben. Da wird gesagt, dass man sein Ego überwinden muss und dann heißt es auch wieder, dass man es stärken soll. Ähnliches gilt für das Ich.
In der spirituellen Sprache wird angestrebt, das "Ich" zu transzendieren. Beim Gebrauch des Wortes "Selbst" ist es noch um einiges schlimmer. Man braucht sich nur die vielen verschiedenen Verbindungen mit "Selbst" anschauen. Da geht es von der Selbstsucht über Selbstüberwindung zum Selbstvertrauen. Und dazwischen liegen Begriffe wie Selbstlosigkeit, Selbstaufopferung, Selbsttäuschung, Selbstbesinnung, Selbstbeherrschung und Selbstmord sowie noch viele weitere verwirrende Begriffe mit dem Wort "Selbst" . Wir wissen zwar meistens, was damit gemeint ist, das Wort "Selbst" hat aber immer eine andere Bedeutung. Da kann man die Persönlichkeit meinen, den Körper und auch etwas, was mit unserem innern Kern zu tun haben könnte.
Personales Selbst (Ich) - Transpersonales Selbst
"Kein Selbst - kein Problem!" -soll ein Buddhist geantwortet haben, als man ihn fragte, was das Wesen des Buddhismus ist. Dabei hat er bei seiner Definition des Selbst recht. Es zeigt aber auch, wie schwierig es ist, beim Gebrauch dieser Worte zu erkennen, was gemeint ist. Wenn ich ein Buch lese, in dem im psycho-spirituellen Sinne diese Worte verwendet werden, versuche ich erst einmal Klarheit zu bekommen, was der Autor damit ausdrücken will. Bei Autoren aus dem asiatischen Raum übersetzte ich es meistens mit Ego. Da gibt es auch angesehene westliche spirituelle Lehrer, die ständig Ich und Ego gleichsetzen. Manchmal sprechen sie dann von einem "tieferen Ich", was dann in Ordnung ist. Man kann dann aus dem, was noch sonst noch gesagt werden, allmählich erkennen, was wirklich gemeint ist.
Ich habe weder in einem Lexikon noch durch irgendeinen spirituellen Lehrer darüber Klarheit bekommen, wie sich nun Ego, Ich und Selbst voneinander unterscheiden. Roberto Assagioli hat durch seine Definitionen zu wesentlich mehr Klarheit beigetragen. Er definierte das "Ich" (= "Personales Selbst") als ein Zentrum von reinem Gewahrsein, in dem auch der menschliche Wille angesiedelt ist. Das heißt, in diesem Zentrum kann ich Entscheidungen treffen, ja oder nein zu etwas sagen. Dieses "Ich" hat wiederum eine Persönlichkeit, die aus vielen Teilen ( Rollen, Charaktereigenschaften, Verhaltensmuster etc.) besteht. Wenn ich mich von diesen Teilen der Persönlichkeit disidentifizieren kann, bin ich in diesem Zentrum. Dieses "Ich" existiert nur in der Gegenwart. "Ich bin" ist die einzige Wahrheit , im Gegensatz zu "Ich bin dies oder das...". Das sagen alle (wirklich) spirituellen Lehrer.
Neben Assagioli möchte ich mich auch auf C.G. Jung beziehen, der dem "Selbst" auch eine positive Bedeutung zumisst. Ich zitiere hier zwei Zitate aus einer Erklärung des Selbst bzw. Ich von Jung, die ich der Homepage der "C.G. Jung - Gesellschaft, Köln" www.cgjung.org entnommen habe:
"Das Selbst ist das Zentrum der ganzen Persönlichkeit und somit die zentrale Steuerungsinstanz, die mit dem Augenblick der Befruchtung der Eizelle wirksam wird und alle Entwicklungsprozesse strukturiert."
"Das Ich ist der bewusste Vertreter des Selbst, sein Auge, mit dessen Hilfe das Selbst sich selbst erkennen kann. Das Selbst kann sich identifizieren mit Tieren, Kristallen und den Sternen. Es ist der Gott in uns."
Die Erklärungen von Roberto Assagioli und C.G. Jung liegen nicht wirklich auseinander. Assagioli macht noch einen Unterschied zwischen dem Personalen Selbst oder Ich und dem Transpersonalen Selbst, aus dem Verbundenheit mit allem erfahren kann, so wie es auch Jung oben beschreibt als "Gott in uns".
"Wir sind auf dieser Welt, jedoch nicht von dieser Welt" heißt eine Wahrheit der Sufis.
Diese Aussage macht deutlich, dass es wichtig ist, sich unserer Individualität bewusst zu werden und uns als Persönlichkeit in unserem Sein auf dieser Welt zu entwickeln. Dazu brauchen wir aber ein starkes Zentrum, ein starkes "Ich" mit einem gut entwickelten Willen. Das ist die Ebene der Persönlichkeitsentwicklung, das "Werde was du bist!" auf dieser Ebene, wo es auch gilt, das in mir vorhandene Potential auszuschöpfen, zu leben.
Auf der transpersonalen Ebene aber geht die Frage "Wer bin ich?" über dieses Ich mit seiner Persönlichkeit hinaus. Hier findet das statt, was man auch Transzendenz nennt, eine Überschreitung des personalen Selbst, des Ich\'s. Transzendenz bedeutet hier, über den Verstand mit seinem rationale Denken hinauszugehen. Auf dieser Ebene findet die Erfahrung von Ganzheit und Verbundenheit mit allem statt. Man kann diese Ebene ebenso gut auch den trans-rationalen Bewusstseinsraum oder auch die Ebene der Mystik nennen. Die Erfahrungen auf dieser Ebene werden in der Psychosynthese auch transpersonale Erfahrungen genannt werden. Sie vermitteln ein inneres Wissen von Nicht-Getrenntsein, von einem Bewusstsein, das sich als Teil eines größeren Ganzen erkennt. Es ist der Zustand von Stille und reinem Sein im Augenblick der Gegenwart, in dem es kein Denken und keine Zeit mehr gibt. Das ist das, was C.G.Jung meint, wenn er sagt, auf dieser Ebene des Selbst erfahren wir "Gott in uns". Hier ist auch die bedingungslose Liebe angesiedelt. Dies ist für mich die vielleicht beste Definition von Gott. "Gott ist Liebe".
Das Ego
Was ist aber nun das Ego? Wenn es jemanden gibt, der das klar definiert, dann kenne ich ihn nicht. Ich möchte es aus meiner eigenen Betrachtung zu erläutern versuchen. Durch unsere animalische Vergangenheit haben wir auch von Natur aus Triebe wie den Fortpflanzungstrieb und den Selbsterhaltungstrieb. Diese Triebe haben ihren Sinn. Es macht für mich viel Sinn, dass das Ego ein Ausdruck dieses Selbsterhaltungstriebes ist. Es ist ganz auf seine eigene Existenz konzentriert. Ein egoistisches Verhalten, das zunächst einmal das eigene Überleben zum Ziel hat, ist wohl kaum zu verwerfen.
Mit dem evolutionären Schritt in die Menschwerdung, der mit dem Verlassen des Paradieses durch Adam und Eva übermittelt wird, geht die Erkenntnis einher, dass wir getrennt sind. Wir haben im Garten Eden das Bewusstsein von Verbundenheit mit allem verloren. Man kann diesen evolutionären Schritt auch so beschreiben: Aus einem pre-personalen (magischen) Bewusstsein ist der Mensch in einem personalen Zustand erwacht. Gekennzeichnet ist diese Ebene mit dem rationalen Bewusstsein. Für die Entwicklung des Menschen, ja für die weitere Entwicklung der Menschheit ist jedoch ein weiteres "Erwachen" erforderlich. Es ist das Erwachen aus dem personalen Bewusstsein, das mit dem Bewusstsein von Trennung verbunden ist, zum transpersonalen Bewusstsein. Was das ist, habe ich oben erläutert.
Der noch nicht "erwachte" Mensch wird in erster Linie vom Selbsterhaltungstrieb bei seinem Verhalten gesteuert. Sein inneres Glaubensmuster ist "Ich bin getrennt vom Ganzen". Es geht in meinem Leben nur um mich. Wenn ich liebe will ich etwas dafür haben. Das ist das typische egoistische Verhalten. Der Egoist kennt keine wirkliche Liebe, weil er dazu gar nicht fähig ist.
Nach meinem Verständnis kam man nun nicht Menschen generell trennen nach Egoisten und Nicht-Egoisten. Da gibt es Menschen, die diese andere, transpersonale Ebene, erfahren haben und doch wieder in egoistische Verhaltensmuster zurückfallen. Und wiederum, so glaube ich auch, gibt es nicht reine Egoisten. Die können dann auch Erfahrungen auf der transpersonalen Ebene in der Liebe zu einem Menschen oder als in einer Naturerfahrung machen.
Die transpersonale Ebene und das neue Bewusstsein
Es gab und gibt auch heute Menschen, die ständig im Kontakt mit dieser transpersonalen Ebene leben und handeln. Wenn Jesus Christus sagte, "Ich und der Vater sind eins", dann bedeutet es genau dies. Deswegen kann man dieses Bewusstsein auch "Christusbewusstsein" nennen. Buddha bedeutet "der Erwachte".
So bedeutet auch Buddhanatur das Gleiche.
Jesus und Buddha sind wohl die bekanntesten Menschen, die bereits den Weg in dieses neue Bewusstsein durch ihr Leben und ihre Lehren aufgezeigt haben.
So macht die "Nachfolge Christi", wie man es in der christlichen Sprache bezeichnet, sehr viel Sinn. Es geht um die Überschreitung des Ego's zur transpersonalen Ebene, zu dem, was wir wirklich sind.
Aus den vielen individuellen Egos bildet sich das kollektive Ego. Es geht immer einher mit Abgrenzung. Das sind sowohl Nationen, Religionsgemeinschaften, Sekten, Gruppen mit einer gemeinsamen Ideologie u.v.a. Durch die Abgrenzung wird auch die Trennung von anderen vollzogen. Meistens gehören dazu auch gemeinsame Feinde. So grenzen sich die "Gläubigen" ab von den "Ungläubigen" mit vielen schrecklichen Konsequenzen, wie wir wissen. Da gab es neben den Christen immer die Heiden. Dieses kollektive Ego ist wohl das größte Übel für die Menschheit, weil es Kriege und Vernichtung anderer rechtfertigt. Der einzelne Mensch wird mit hineingezogen in diesen Wahnsinn, den wir in der Geschichte der Menschheit immer wieder neu erleben. Mit den modernen Waffen wurde dieser Wahnsinn noch gesteigert. Die Nachrichten eines jeden Tages berichten davon.
Das kollektive Ego ist aber nichts anderes als die Summe aller individuellen Egos.
Je mehr Menschen also dieses Ego überschreiten und immer mehr zu diesem neuen Bewusstsein erwachen, je mehr wird auch die Menschheit insgesamt davon betroffen. Ich sehe darin die einzige Chance, die wir haben, die Existenz der Menschheit in der Zukunft auf diesem Planeten zu sichern.
Willigis Jäger drückt dies so treffend mit einem Zitat aus, dass er von Karl Rahner übernommen und leicht verändert hat:
"Der Mensch der Zukunft wird entweder Mystiker sein oder er wird nicht mehr existieren"
Der Mystiker aber ist nichts anderes als der Mensch, der durch die Erfahrungen, die er macht, sein wirkliches Wesen erkennt. Er gebraucht weiter seinen Verstand, wenn es sinnvoll ist. Für ihn ist bedingungslose Liebe zu sich und seiner Umwelt jedoch die einzige Grundlage für sein Handeln. Er braucht keine moralischen Gesetze mehr von außen.
Autor: Hans Piron
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